Fahrt ohne Ende (III)

René Markus

Nach dem Wochenende hat er zwei Tage frei. Er fällt in ein Loch. Jede Bewegung fällt schwer, er hat kaum Lust, sich etwas Essbares zuzubereiten. Meist liegt er auf dem Sofa und trudelt gedanklich in Untiefen, denen er sehr lange ausgewichen ist.

In den ersten Jahren hatte er noch manchmal überlegt, sie, wenn er nicht im Dienst war, einmal am Anleger anzusprechen. Aber das erschien ihm bald als zu kalkuliert. Später hatte er darüber nachgedacht, ab und an in Finkenwerder spazieren zu gehen – vielleicht würde sich mehr oder weniger zufällig eine Situation ergeben, durch die er sie kennenlernen konnte. Aber auch diese Idee gab er bald auf, weil er sich nicht mehr geübt in so etwas fühlte, es vielleicht noch nie war. Irgendwann gelangte er dann zu der Überzeugung, dass er das alles – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nicht noch einmal konnte. Nicht etwa, weil er sich Mariam noch verpflichtet fühlte. Er war schon damals überzeugt davon, dass sie, direkt und unsentimental, wie sie immer gewesen war, ihn geradezu dafür verurteilt hätte, sich keine neue Partnerin zu suchen. Das war es also nicht. Er ist sich bis heute nicht sicher, was genau ihn damals daran hinderte, auf sie zuzugehen. Aber er weiß, dass alles über die Zeit noch wesentlich komplizierter geworden ist, dass er Erwartungen, Projektionen aufgetürmt hat, aus denen er kaum noch herausfindet. Dass er mühsam etwas zusammengetragen hat, das bei der kleinsten Verschiebung instabil werden und ins Bodenlose rutschen könnte. Aber er denkt dennoch so intensiv wie lange nicht mehr an sie.

Er stellt sich vor, ist sich beinahe sicher, dass sie in einem der Mietshäuser in der Ostfrieslandstraße wohnt. Sieht sie in der Abendsonne auf ihrem Balkon sitzen, auf dem sie in kleinen Hochbeeten Paprika, Peperoni und vor allem Kräuter anbaut, Rosmarin, Salbei, Schokoladenminze, alles, was kräftig, scharf genug ist, um den Block, die Straße, ganz Finkenwerder für einen Moment zu vergessen. Er sieht sie Bücher lesen, zeichnen, sinnieren.

Er würde gern mit irgendwem über sie sprechen. Aber mit wem? Groß ist die Auswahl nicht mehr, zu vieles hat sich über die Zeit verloren. Sein Bruder wäre noch der naheliegendste Kandidat. Aber was gebe es schon zu sagen? Musste das alles auf ihn und auch alle anderen, die ihm einfielen, mit ihren vollen, gefestigten Leben nicht lächerlich wirken?

Er geht zum Arzt und lässt sich für den Rest der Woche krankschreiben.

Als er wieder im Dienst ist, bleibt sie verschwunden. Sie lässt eine ganze Woche aus – was er, obwohl das in der Vergangenheit bereits mehrfach vorgekommen ist, mindestens als seltsame Fügung empfindet. Als sie auch in der Folgewoche ausbleibt, verfällt er immer mehr in Grübelei. Ist ihr oder ihrer Mutter etwas zugestoßen? Ist sie verzogen? Oder hat es  – er findet den Gedanken selbst unwahrscheinlich, dennoch denkt er ihn immer wieder – vielleicht doch etwas mit ihm zu tun? Sorge wechselt sich ab mit Traurigkeit, tiefe Ernüchterung mit kurzen Momenten entrückter Erleichterung.

In der dritten Woche beginnt er abzustumpfen. Er fährt wie benebelt, betäubt. Steuert an Fracht- und Kreuzfahrtschiffen, Schleppern und Barkassen vorbei, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Stiert auf das ewig glitzernde Wasser. Bringt gesichtslose Menschen über den Fluss.

Nach einigen Wochen steht sie plötzlich wieder am Anleger. Er erschrickt ein wenig darüber. Statt einem Beutel hat sie etwas anderes in der Hand, von dem er nicht gleich erkennen kann, was es ist. Sie geht wieder nach oben und setzt sich auf einen ihrer gewohnten Plätze.

Erst als sie in Teufelsbrück schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden ist, realisiert er, dass sie einen in dünnes Papier eingeschlagenen Blumenstrauß dabei hat.

Sie fährt an diesem Abend nicht wieder mit ihm zurück. Und er ist sich fast sicher, dass er sie nie wieder übersetzen wird.


Fahrt ohne Ende (II)

René Markus

Als er mitten in der Nacht aufwacht, braucht er einen kurzen Moment, um zu realisieren, dass er im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt. Er ertastet den Schalter der Stehlampe auf dem Fußboden und schaltet sie ein. Er überlegt aufzustehen und ins Bett zu gehen, spürt aber, dass er die tiefe, weiche Ruhe des Schlafzimmers jetzt nicht ertragen könnte. Also dreht er sich zur Seite und schaut zu dem dreispitzigen schwarzen Rauchquarz, der zwischen dem kleinen Modell der Estonia und Mariams Lieblingsbüchern in der Anbauwand steht. Sie hatten ihn damals, in einem ihrer letzten Urlaube in einem Bergbaumuseum in Harrachov gekauft. Eigentlich hatte Mariam unbedingt die Elbquelle sehen wollen, aber der Weg dorthin erwies sich, obwohl es bereits April war, als stark verschneit und vereist, sie waren nicht entsprechend ausgerüstet und es war ihnen schnell zu beschwerlich geworden. Der nicht gerade günstige Stein wurde eine Art Trostpflaster. Mariam mochte ihn, weil er, wie sie sagte, aussehe, als würde er Dunkelheit in sich aufsaugen. Er hatte nichts dazu zu sagen gewusst, sich aber sehr über diesen Anflug gewundert, weil sie sonst nicht zu Poetischem oder gar Esoterischem neigte, sondern solcherlei Anwandlungen stets eher belächelte.

Später hatte er sich oft gefragt, ob sie dort, im Riesengebirge, vielleicht schon spürte, dass etwas nicht stimmte – einen leichten ungewohnten Druck in einem Organ, eine minimale Verschiebung der Wahrnehmung, irgendetwas kaum Greifbares, das aber beständig da war und anders als mancherlei Gespinste nicht binnen Stunden oder Tagen wieder verflog.

Der Regen am nächsten Tag tut ihm gut, alles ist etwas vernebelt, unscharf, die Scheibenwischer gleiten sachte hin und her, das Wasser ist weich und hellbraun. Er zieht sich tief in etwas zurück, das er nicht benennen kann, das sich aber sehr wohlig anfühlt.

Sie fährt zu den gewohnten Zeiten hin und wieder zurück, ohne auch nur einmal zu ihm hochzusehen. Es hat sich offenbar nichts geändert. Er ist trotzdem froh, dass morgen Samstag ist, denn das Wochenende lässt sie meistens aus. Er hat sich immer vorgestellt, dass sie dann lange Wanderungen unternimmt oder Fahrradtouren nach Stade und durchs Alte Land.

Jetzt denkt er vor allem daran, dass noch etwas Zeit vergehen wird, in der das Ereignis für sie weiter verblasst.


Fahrt ohne Ende (I)

René Markus

Er steuert in elegantem Bogen hinter der einlaufenden Ever Living entlang. Fährt ein wenig übermütig an den Anleger Rüschpark heran und schaut reflexhaft auf seine Armbanduhr, obwohl er genau weiß, wie spät es ist. Er sieht nach den Zusteigenden, findet, wie immer um diese Zeit, dass sie sich quälend langsam auf das Schiff bewegen. Er nimmt es ihnen übel. Es ist, als würden sie ihn sabotieren, seine Abfahrt absichtlich hinauszögern wollen.

Als endlich alle zugestiegen sind und er ablegen kann, fährt er das kurze Stück bis Finkenwerder etwas schneller als er sollte, bremst, als der Anleger in Wurfweite ist, scharf ab und schippert sehr langsam hinan. Aus dem Augenwinkel schaut er nach den Wartenden und sieht, dass sie da ist, dass ihr blauer Beutel, auf dem sich die Umrisse der Tupperdosen abzeichnen, neben ihr auf dem Boden steht. Wie manches Mal unterhält sie sich angeregt mit dem älteren Herrn, der oft hier steht oder langsam herumgeht, zuweilen fast etwas herumirrt, aber nie zusteigt, weder auf seine Linie noch auf jene zu den Landungsbrücken.

Vorsichtig legt er an und lässt die Rampe hinunter. Dann steht er kurz auf und geht zum Seitenfenster. Sieht, dass sie, als sie losgehen will, beinahe den Beutel vergisst. Der Alte zeigt darauf. Sie lacht kurz.

Sie setzt sich, wie fast immer, ihm dem Rücken zugewandt in eine der mittleren Reihen auf dem Oberdeck. Das Unterdeck sucht sie nur bei sehr unwirtlichem Wetter auf. Den Beutel hat sie auf dem Schoss. Ist er, wie heute, mit einer der Bügeleisen-Fähren unterwegs, kann er sie durch das Frontfenster sehen. Manchmal telefoniert sie kurz, sicherlich, um Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg ist. Wenn kaum andere Fahrgäste an Bord sind, legt sie ab und an den Kopf etwas zurück, wahrscheinlich schließt sie dabei auch die Augen. Sie scheint die kurze Fahrt auch nach all den Jahren noch immer etwas zu genießen. Vielleicht fällt die Last eines anstrengenden Arbeitstages hier ein wenig von ihr ab. Vielleicht hat sie Ärger mit Ämtern oder Kolleg*innen, der hier kurz weggeweht wird.

Er fährt nun sehr langsam. Sieht auf das schwarze Wasser, die kräuselnden Wellen und wird ganz ruhig. Er muss und will während der Fahrt nicht zu oft zu ihr hinsehen. Das wäre zu viel, würde sich nicht richtig anfühlen. Als er angelegt hat, schaut er aber noch einmal nach ihr und sieht, dass sie, als sie sehr spät aufsteht und eben zur Treppe gehen will, von dem nervösen jungen Mann, der stets die Mülleimer durchsucht, angerempelt wird. Ein Henkel des Beutels entgleitet ihr, eine Tupperdose rutscht heraus, fällt herunter und ergießt ihren rotbraunen, soßigen Inhalt über das Deck. Er sieht, dass sie dem jungen Mann hinterherflucht, dann Dose und Deckel aufhebt und schließlich etwas ratlos dasteht, sich nervös einige Haarsträhnen aus dem Gesicht wischt.

Er aktiviert das Mikrofon, sagt über den Lautsprecher: „Keine Sorge, das wird gleich entfernt.“

Sie schaut zu ihm hoch, verzieht etwas den Mund und nickt. Er versucht zu lächeln und nickt zurück.

Während er die Lache aufwischt, kann er noch sehen, dass sie eiliger als sonst allein in Richtung Nienstedten davon geht. Die ältere Frau mit Gehstock, die in den ersten Jahren noch meist hier auf sie gewartet, die ihr immer lachend, strahlend zugewinkt hat, kommt mittlerweile nur noch sehr selten.

Die nächsten Stunden fühlen sich mühselig an. Das Schiff steuert sich störrisch, das Wasser ist träge, es nieselt etwas und die Fahrgäste schauen mürrisch.

Er fragt sich, ob der kleine Zwischenfall, der für ihn weniger in dem Soßen-Malheur besteht als darin, dass sie sich angesehen, dass sie quasi miteinander kommuniziert haben, irgendeine Veränderung nach sich ziehen wird. Hat er zu schnell reagiert? Wirkte das seltsam auf sie? Und hat er freundlich gelächelt oder nur blöde gegrinst?

Gegen 22 Uhr wartet sie jedenfalls nicht wie sonst in Teufelsbrück. Er beginnt zu grübeln, spürt, dass es ihm etwas in den Schläfen zieht und seine Hände sich taub anfühlen. Vielleicht nimmt sie seine Aufmerksamkeit schon sehr lange wahr. Vielleicht ist sie heute den langen Bogen mit dem 150er-Bus zurückgefahren.

Eine Stunde darauf steht sie schließlich doch wieder am Anleger. Die Schläfen beruhigen sich. Als sie aussteigt, schaut sie kurz zu ihm herauf und nickt ihm noch einmal zu. Er weiß nicht, wie er reagieren soll, und erstarrt. Bei Dienstende ist er so erschöpft wie lange nicht.


Harrachov, Winter 1993

René Markus

Wir sind für einige Tage mit befreundeten Familien in einem Häuschen in Harrachov. Fast alle sind ehemalige Nachbarn.*
Die Mutter fehlt. Auch wenn es hier nicht schmerzt, dass sie nicht mehr da ist. Hier ist so viel Ablenkendes, Interessantes. Andere Kinder, die ich lange und doch nicht kenne, Kartenspiele, panierte Champignons, Witze, die ich kaum oder nicht verstehe, schnarchende Männer, riesige Eiszapfen an tief eingeschneiten Häusern und Skier, dünne Bretter, auf denen ich herumwackel.
Die älteren Kinder fahren sehr sicher, haben offenbar schon mehrfach üben können. Ich mühe mich. Falle und raffe mich wieder auf. Lasse mich fallen, um zu bremsen. Weiß nichts von Pizzastücken. Lasse es irgendwann bleiben und fahre nur noch mit dem Schlitten. Die anderen Kinder stänkern nicht oder nur wenig, aber ich merke, dass ich nicht dazu gehöre. Ich bin zu jung für die einen, zu alt für die anderen. Zumindest denke ich das, weil es das Offensichtliche ist. Vielleicht waren die Gründe ganz andere.
An einem Tag, von dem ich nicht mehr weiß, ob er sonnig, neblig, verschneit war, brechen einige der Eltern auf Skiern zu den Elbquellen auf. Abends dann die Nachricht: Unser Vater musste abbrechen. Irgendeine Art von Zusammenbruch. Er ist im örtlichen Krankenhaus. Ich verstehe die Details nicht, ich erinnere sie heute nicht und habe sie damals vielleicht nicht einmal wirklich gehört. Ich höre nur: Vater, Krankenhaus. Ich habe Angst. Ich weiß nichts mehr von der folgenden Nacht. Da ich mein junges Ich aber noch etwas kenne, muss ich annehmen, dass mich unruhige Fantasien und Halbträume so lange wach gehalten haben, bis ich, von all diesen Gespinsten erschöpft, doch eingeschlafen bin.
Am nächsten Tag – auch hier weiß ich keinen Zeitpunkt mehr – ist der Vater wieder da. Ob er die Elbquelle erreicht hat, erfahre ich lange nicht. Wir werden erst sehr viel später noch einmal über diesen Teil des Urlaubs sprechen. In den Jahren dazwischen wird nur ab und an eine VHS-Kassette mit einigen amüsanten Schnipseln angeschaut. Eines zeigt meinen jüngeren Bruder am Fuß eines Skihangs, darüber jammernd, dass er nicht mehr weitergehen könne. Unser Vater und ich gehen im Hintergrund den Berg hinauf. Als er merkt, dass wir nicht stehen bleiben, flitzt er hinterher.

* In den Jahren darauf werden sich viele dieser Freundschaften schleichend aufdröseln. Später fällt mir auf, dass viele der Eltern von ostdeutschen Freund*innen und Bekannten über wenige oder auch gar keine freundschaftlichen Beziehungen verfügen. Sind sie in den schwierigen 90ern zerfallen? Haben sich die Bindungskräfte der in der DDR eventuell auch unter dem Eindruck von Zwängen, Unfreiheiten und Entbehrungen entstandenen Beziehungen in den neu erlangten Freiheiten aufgelöst? Ist dieses Phänomen, sofern es in der Breite wirklich existiert, – als Mitursache und Symptom zugleich – Teil des Geflechts, das die politischen Verwerfungen im Osten ausbildet?


Övelgönne (II)

René Markus

In den Tagen darauf versuchte sie, ohne irgendwen direkt zu fragen, mehr dazu herauszufinden. Bis Gitte Schwöring ihr schließlich erzählte, dass die Käpitänshäuser in Unruhe wären, weil Markschalls Katze gestorben sei und Bövening behaupte, dass Milli, wie die Katze hieß, eine der seltsamen blauen Baumfrüchte gegessen habe und daran zugrunde gegangen sein müsse. Sie setzte Gitte auseinander, dass das ganz unmöglich sei, da die Schale der Früchte äußerst widerständig und eine Katze – und erst recht die altersschwache Milli – niemals dazu in der Lage wäre, sie zu öffnen. Und leise fügte sie hinzu, dass Bövening sich wahrscheinlich nur von ihrem Baum gestört fühle, weil er auch sein Haus und vor allem seine viel gelobte Magnolie immer mehr beschatte. Aber Gitte verzog lediglich den Mund und hob kurz die Schultern.
In den nächsten Wochen unternahm sie mehrere Versuche, mit Bövening ins Gespräch zu kommen, aber der knurrte sie immer nur kurz an und ließ sie stehen. Markschalls sah sie nie und es brannte abends auch kein Licht bei ihnen. Die anderen Nachbarn hielten sich spürbar von ihr fern. Selbst Gitte war nun stets in Eile.
An einem Septemberabend, sie hatte am Nachmittag allein einige Sandsäcke vor die Haustür geschleppt und im Vorgarten stand schon etwas Wasser, stellte sie sich, schon im Dusel, im Halschlaf, vor, wie es wäre, den Baum, dessen Zweige im Wind an ihrem Schlafzimmerfenster nestelten und scharrten, zu fällen. Sie schlief einen unruhigen, zerrissenen Schlaf. Der Wind wurde zum Sturm. Eine Möwe wimmerte unablässig. Das Gebälk ächzte. Regen prasselte an die Fenster und der Baum schabte daran, peitschte dagegen. Erst gegen Morgen sank sie, erschöpft von der Nacht, in einen tieferen Schlaf.
Als sie am Mittag aufwacht, ist es sehr hell im Zimmer. Sie geht, noch verschlafen, zum Fenster und schaut lange hinaus, bis ihre Gedanken das Gesehene eingeholt haben. Der Baum ist weg. Er liegt nicht etwa umgestürzt im Wasser, das gerade einmal einige Zentimeter hoch in ihrem Garten steht. Er ist gänzlich fort.
Als das Wasser nach zwei Tagen abgeflossen ist, beschaut sie sich den Tatort genauer. Der Baum ist samt Wurzel verschwunden. Das entstandene Loch hat der Elbschlamm verfüllt.


Övelgönne (I)

René Markus

Kurz nach dem leichten Hochwasser im Frühjahr muss der Baum in ihrem Vorgarten aus der Erde gesprießt sein. Sie bemerkte ihn, auch weil sie bis weit in den April hinein nicht die Kraft hatte, sich um den Garten zu kümmern, erst, als er schon hüfthoch war. Sie überlegte, ihn auszureißen, aber seine dunklen, nahezu dreieckigen Blätter gefielen ihr.
Das Bäumchen wuchs sehr schnell, im Mai war es bereits so hoch wie sie und eines Morgens hingen grüne, runde, Tischtennisball-große Früchte an ihm. Sie befühlte eine von ihnen und stellte fest, dass sie eine sehr harte Schale zu haben schien.
Sie versuchte im Internet etwas über den Baum herauszufinden, aber ihre Stichworte führten zu nichts Brauchbarem. Also lud sie sich eine Pflanzenbestimmungs-App herunter, die allerdings nur Arten anzeigte, die ihrem Baum nicht einmal entfernt ähnlich waren. Sie fragte sich, wo der Samen hergekommen sein könnte. Aus einer Gärtnerei oder Baumschule in Spadenland oder Ochsenwerder? Von einem Schiff im Hafen? War er Teil einer sehr exklusiven Fracht gewesen? Oder hatte ihn ein Vogel irgendwo an Bord getragen?
Sie überlegte, im Botanischen Garten anzufragen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Sie meinte ohnehin, bereits argwöhnische Blicke der Nachbarn, die dem Baum galten, bemerkt zu haben. Was würde die Nachbarschaft erst denken, wenn hier jemand vorbeikäme, um ihn zu begutachten.
Im Juni, die Früchte waren nun groß wie Tennisbälle und der Baum begann bereits das zweite Stockwerk zu beschatten, pflückte sie eine Frucht. Die Schale erwies sich als noch härter, als sie vermutet hatte. Sie versuchte es mit ihrem schärfsten Küchenmesser, aber es hinterließ kaum Spuren. Also griff sie zum Hammer und schlug mehrmals auf die Frucht ein, bis die Schale schließlich immer mehr Risse zeigte. Das weiß-orangene Fleisch schmeckte leicht bitter und am Abend grummelte ihr der Magen, was bei ihr nur höchst selten vorkam. Wahrscheinlich waren die Früchte noch nicht reif.
Im Juli bekamen die Früchte einen dunkelblauen Schimmer und schließlich fielen sie nach und nach herunter. Die Schale war nun weicher, aber dadurch fast noch etwas widerspenstiger, weil sie unter den Hammerschlägen gummiartig nachgab. Sie bohrte mit einem spitzen Messer ein Loch hinein und schnitt die Frucht von da aus auf. Das Fleisch war nun orange-rot und schmeckte angenehm süßlich und fruchtig auf eine Weise, die nichts ihr Bekanntem ähnelte und die sie auch nicht hätte beschreiben können. Sie verspeiste zwei ganze Früchte, bemerkte dabei, dass sie keinerlei Kerne hatten und fragte sich, wie der Baum sich wohl fortpflanzte.
Eines Nachmittags, sie saß in ihrem Wintergarten und erfreute sich an den Schattenspielen der dreieckigen Blätter, hörte sie Kurt Bövening, ihren direkten Nachbarn, mit jemandem reden, den sie nicht erkennen konnte, weil er sehr leise sprach. Aber sie hörte Bövening deutlich die Worte „Baum“ und „Gift“ sagen – und erschrak.


Container

René Markus

Es ist dunkel und kalt und der Boden schwankt unaufhörlich. Durch die winzigen Ritzen an der Containertür dringt kaum frische Luft herein. Er sitzt sehr lange mutlos in einer Ecke. Es ist, als wäre er festgefroren.
Irgendwann – es sind Minuten oder Stunden vergangen – überwindet er die Starre und beginnt in der Dunkelheit hin und her zu laufen. Erst noch recht ziellos, aber bald wird er hungrig. Also sucht er sein Gefängnis nach etwas Essbarem ab. Befühlt die Wände, die Ladung, aber er findet nur Holz, Plastikfolie, Klebeband, Pappe, Styropor, Gummi, Metall. Dann wird er durstig und beginnt erneut zu suchen, versucht kleinste Lachen, einzelne Tröpfchen zu finden. Aber es ist wüstentrocken hier drinnen.
Er setzt sich zwischen zwei Kisten, friert unheimlich und erstarrt wieder.
Irgendwann – es ist schon lange weder Tag noch Nacht gewesen – gerät alles noch stärker in Bewegung. Er hält sich eilig an einer Kiste fest. Hört ängstlich zu, wie der Sturm um den Container faucht. Hört Wellen brechen, Wasser klatschen und spritzen.
Als sich das Schiff wieder beruhigt hat, zanken sich draußen die Möwen. Er hört ihre Schreie, ihr Wimmern. Er ist durstig und hungrig wie nie zuvor. Er würde jetzt alles, wirklich alles … Er stöbert noch einmal in den hintersten Kisten. Aber er findet nur noch mehr Styropor und stinkendes Plastik.
Als das Schwanken gänzlich aufgehört hat, sitzt er ganz ruhig da. Denkt er an die Lavendelfelder, die Orte seiner Kindheit, Orte der Wärme und Ruhe? Fragt er sich, warum er auf den Lkw geklettert ist, der doch nur Verderben bedeuten konnte? Spürt er die Enden, die Ränder seines Körpers, den Saum? Hofft er noch?
Bald hört er, dass es nah und fern immer wieder rummst und scheppert. Schließlich wankt der Container erneut, aber anders als zuvor. Er spürt, dass es hinauf geht und bald wieder hinunter. Er sitzt nun an der Tür und kratzt am Metall, hämmert dagegen, weiß, dass die Kraft ihn bald verlassen haben wird.
Als die Tür Stunden später endlich geöffnet und der Container entladen wird, hört niemand das Knacken und Knirschen des Chitins. Und niemand sieht, wie schön die Lichter des Hafens darauf widerglänzen.


Februar 2025

René Markus

Online doch noch eine kurze Brücken-Diskussion: In einer Kommentarspalte schreibt einer jener Untergangsrauner, dass er die Carolabrücke seit dem 11. September täglich als Vorbote dessen sehe, was in diesem Land auf uns zukomme. Ich recherchiere nach Brückeneinstürzen weltweit, finde heraus, dass allein in den letzten 15 Jahren mehrere Brücken in den USA, einige in China (u. a. 2024 eine Autobahnbrücke) und weitere in anderen Staaten (in Südkorea erst wenige Tage zuvor) eingestürzt sind, sende dem virtuellen Gegenüber eine Liste zu, die diese Ereignisse verzeichnet, und frage, ob er daraus auch die Zukunft der anderen Staaten hervororakeln könne. Eine Antwort erhalte ich nicht.


Dresden, September 2024

René Markus

Ich schaue mir, auf der Augustusbrücke stehend, erstmals selbst das Carolabrücken-Debakel an. Der mittlere Teil des Brückenzugs C liegt im Wasser, die dahinführenden Flügel hängen schräg herab. Das Bild ist mir bereits hinlänglich bekannt, aber das unmittelbare Unfassbare verfügt noch immer über eine andere Wirkmacht. Die Szenerie fasst mich an, auch wenn ich die „Untergang des Abendlandes“-Implikationen, mit denen der Einsturz vielerseits aufgeladen wird, nicht gelten lassen möchte.
Die Schauseite der Augustusbrücke ist voller Menschen. Neben mir ein Paar, Mann und Frau, vielleicht Mitte 50. Ich sage etwas zu ihnen, von dem ich weiß, dass es Zustimmung und mehr hervorkitzeln kann. Etwa: Ja, das ist schon heftig. Sie nicken. Er führt aus, dass er sich sehr darüber wundere, dass man da jetzt schweres Gerät auffahren könne. Sonst dürfe dort „wegen unseren grünen Blumenkindern“ nicht mal ein Grashalm umgeknickt werden. Ich denke sofort an die Filmnächte, deren nicht eben kleine Bühne da, wo jetzt die Bagger stehen, Jahr für Jahr aufgebaut wird. (An das schwere Case, das mir vor Jahren, als ich die Bühne für Die Ärzte mit aufbaute, auf den Fuß gekippt ist, was meinen Zehennagel noch heute etwas unschön aussehen lässt.) Denke an die belebten Wiesen im Sommer, wenn gespielt, gegrillt, getrunken, geliebt wird. Frage mich ganz ernsthaft, die Entfaltung welcher Fantasie die Blumenkinder mit ihrem Kampf um jeden Grashalm verhindern. Überlege, ihn danach zu fragen. Und denke schnell an all die ähnlich initiierten und zu endlosen Diskussionen auswuchernden Gespräche mit Verwandten, Bekannten und Unbekannten in den letzten Monaten und Jahren, an Furor, Selbstgerechtigkeit, Sturheit, Verletzungen – und entscheide mich, müde von all dem, dafür, nichts zu erwidern. Er kommt dennoch in Fahrt. (Ich hätte nicht zündeln sollen. Habe ich das? Habe ich nicht nur ein winziges schwach glimmendes Stöckchen in ein brennendes Haus geworfen?) Er sei lange auf dem Bau gewesen. Verstehe nicht, warum die dort mit diesen Spielzeug-Baggern anrückten. Da müsse man ganz andere Kaliber auffahren. In China würde man innerhalb weniger Tage, aber hier könne man nicht, dürfe man nicht, die Bürokratie und die Bürohengste, der Baubürgermeister und die Grünen, dort würde die neue Brücke in ein paar Wochen, aber wenn er das hier sehe. Seine Hände kommen mit dem Abwinken kaum hinterher.
Ich habe nicht viel Zutrauen zu seiner grollenden Expertise, verfüge selbst allerdings über gar keine. Ich höre ihm noch eine Weile zu, beiße mir die Zunge taub und verabschiede mich schließlich knapp, aber freundlich von den beiden.

In den folgenden Wochen werden bei Räumarbeiten mehrere Bomben im Flussuntergrund gefunden. Immerhin eine verfügt noch über einen funktionierenden Zünder.


Elbufer Dresden-Neustadt, März 2025

René Markus

Unweit jener Stelle an der Albertbrücke, von der aus ich gestern den Biber beobachten konnte, steht eine Frau mit Kamera. Sie hält die Kamera gesenkt, scheint auf das Display zu schauen. Ihr volles lockiges Haar versteckt ihr Gesicht. Ich spreche sie an, frage, ob sie den Biber fotografiert habe. Sie redet sehr schnell, ist freudig aufgeregt: Sie sei wegen eines Weißstern-Blaukehlchen hier, einer in Sachsen höchst seltenen Vogelart. Die Birdwatching-Community sei regelrecht on fire wegen des Auftauchen des Vogels in Dresden. Vorhin habe sie sogar noch einen anderen Watcher angetroffen. In der Vergangenheit sei sie oft sehr weite Strecken gefahren, um ein Blaukehlchen zu Gesicht zu bekommen, nie habe das geklappt. Und jetzt sei es hier, in ihrer Heimatstadt. Sie zeigt mir ein Foto, auf dem unscharf ein Vogel zu sehen ist, dessen blauer Latz mit weißem Stern sich allerdings deutlich abzeichnet. Ich überlege, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen des Bibers und dem des Vogels gibt. Immerhin wurde hier ungewöhnlicherweise seit längerem nicht in das Wuchern von Bäumchen und Sträuchern im Uferschlamm eingegriffen. (In recht kurzer Zeit könnte wohl ein Auwäldchen heranwachsen. Allerdings würde es in einem winzigen Bereich die Sicht auf die Altstadt verstellen, was selbstverständlich verhindert werden müsste.)

Wir reden noch etwas über Vogelbeobachtung im Allgemeinen. Auf meine kleinen Triumphe – die Bachstelze, die ich gestern hier mit BirdNET (einer App zur Identifizierung von Vögeln anhand ihrer Stimme) aufgezeichnet habe, Grünspecht und Stieglitz auf dem Elberadweg, Goldammern auf der Boselspitze – geht sie allerdings nicht weiter ein. Ich frage sie nach dem Sprosser, der mich interessiert, seit ich in einer Erzählung Erwin Strittmatters von ihm las. Aber sie räumt ein, dass sie ihn wahrscheinlich nicht von einer Nachtigall unterscheiden könnte. Ein Bekannter habe mal einen in Osteuropa gesichtet, sein Gesang sei wohl weniger aufgeregt als der der Nachtigall gewesen.

Nachdem ich mich verabschiedet habe, sehe ich die Vogelfreundin noch die Wiese hinaufschlurfen. Später – ich bin auf dem Rückweg – sitzt sie auf der Freitreppe unter dem grün patinierten Bogenschützen, der ewig die Sehne spannt, für immer anvisiert, in der Sonne. Ihre Kamera liegt neben ihr. Sie blinzelt ins Licht, ihr Blick wirkt jetzt fast ein wenig leer.