Fahrt ohne Ende (III)
René Markus
Nach dem Wochenende hat er zwei Tage frei. Er fällt in ein Loch. Jede Bewegung fällt schwer, er hat kaum Lust, sich etwas Essbares zuzubereiten. Meist liegt er auf dem Sofa und trudelt gedanklich in Untiefen, denen er sehr lange ausgewichen ist.
In den ersten Jahren hatte er noch manchmal überlegt, sie, wenn er nicht im Dienst war, einmal am Anleger anzusprechen. Aber das erschien ihm bald als zu kalkuliert. Später hatte er darüber nachgedacht, ab und an in Finkenwerder spazieren zu gehen – vielleicht würde sich mehr oder weniger zufällig eine Situation ergeben, durch die er sie kennenlernen konnte. Aber auch diese Idee gab er bald auf, weil er sich nicht mehr geübt in so etwas fühlte, es vielleicht noch nie war. Irgendwann gelangte er dann zu der Überzeugung, dass er das alles – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nicht noch einmal konnte. Nicht etwa, weil er sich Mariam noch verpflichtet fühlte. Er war schon damals überzeugt davon, dass sie, direkt und unsentimental, wie sie immer gewesen war, ihn geradezu dafür verurteilt hätte, sich keine neue Partnerin zu suchen. Das war es also nicht. Er ist sich bis heute nicht sicher, was genau ihn damals daran hinderte, auf sie zuzugehen. Aber er weiß, dass alles über die Zeit noch wesentlich komplizierter geworden ist, dass er Erwartungen, Projektionen aufgetürmt hat, aus denen er kaum noch herausfindet. Dass er mühsam etwas zusammengetragen hat, das bei der kleinsten Verschiebung instabil werden und ins Bodenlose rutschen könnte. Aber er denkt dennoch so intensiv wie lange nicht mehr an sie.
Er stellt sich vor, ist sich beinahe sicher, dass sie in einem der Mietshäuser in der Ostfrieslandstraße wohnt. Sieht sie in der Abendsonne auf ihrem Balkon sitzen, auf dem sie in kleinen Hochbeeten Paprika, Peperoni und vor allem Kräuter anbaut, Rosmarin, Salbei, Schokoladenminze, alles, was kräftig, scharf genug ist, um den Block, die Straße, ganz Finkenwerder für einen Moment zu vergessen. Er sieht sie Bücher lesen, zeichnen, sinnieren.
Er würde gern mit irgendwem über sie sprechen. Aber mit wem? Groß ist die Auswahl nicht mehr, zu vieles hat sich über die Zeit verloren. Sein Bruder wäre noch der naheliegendste Kandidat. Aber was gebe es schon zu sagen? Musste das alles auf ihn und auch alle anderen, die ihm einfielen, mit ihren vollen, gefestigten Leben nicht lächerlich wirken?
Er geht zum Arzt und lässt sich für den Rest der Woche krankschreiben.
Als er wieder im Dienst ist, bleibt sie verschwunden. Sie lässt eine ganze Woche aus – was er, obwohl das in der Vergangenheit bereits mehrfach vorgekommen ist, mindestens als seltsame Fügung empfindet. Als sie auch in der Folgewoche ausbleibt, verfällt er immer mehr in Grübelei. Ist ihr oder ihrer Mutter etwas zugestoßen? Ist sie verzogen? Oder hat es – er findet den Gedanken selbst unwahrscheinlich, dennoch denkt er ihn immer wieder – vielleicht doch etwas mit ihm zu tun? Sorge wechselt sich ab mit Traurigkeit, tiefe Ernüchterung mit kurzen Momenten entrückter Erleichterung.
In der dritten Woche beginnt er abzustumpfen. Er fährt wie benebelt, betäubt. Steuert an Fracht- und Kreuzfahrtschiffen, Schleppern und Barkassen vorbei, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Stiert auf das ewig glitzernde Wasser. Bringt gesichtslose Menschen über den Fluss.
Nach einigen Wochen steht sie plötzlich wieder am Anleger. Er erschrickt ein wenig darüber. Statt einem Beutel hat sie etwas anderes in der Hand, von dem er nicht gleich erkennen kann, was es ist. Sie geht wieder nach oben und setzt sich auf einen ihrer gewohnten Plätze.
Erst als sie in Teufelsbrück schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden ist, realisiert er, dass sie einen in dünnes Papier eingeschlagenen Blumenstrauß dabei hat.
Sie fährt an diesem Abend nicht wieder mit ihm zurück. Und er ist sich fast sicher, dass er sie nie wieder übersetzen wird.